- Literaturnobelpreis 1934: Luigi Pirandello
- Literaturnobelpreis 1934: Luigi PirandelloDer italienische Dramatiker erhielt den Nobelpreis für seine kühne und erfinderische Erneuerung des Dramas und der Bühnenkunst.Luigi Pirandello, * Agrigento (Sizilien) 28. 6. 1867, ✝ Rom 10. 12. 1936; ab 1880 Philologiestudium in Palermo, Rom und Bonn, 1891 Promotion, 1894 Heirat mit Maria Antonietta Portulano, 1897-1922 Lehrtätigkeit als Professor für Literatur in Rom, 1924 Eintritt in die faschistische Partei Italiens, 1925 Gründung und Leitung des Teatro d'Arte, Theatertourneen in Italien und Europa.Würdigung der preisgekrönten LeistungMit Luigi Pirandello wählte die Schwedische Akademie 1934 einen Preisträger, der dem Theater zu einem bedeutenden, bis in die Gegenwart nachwirkenden Innovationsschub verhalf. Für die italienische Literatur schaffte er die bedeutendste Verbindung zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert und führte sie an die existenzialistischen Themen der Moderne heran: der Zwiespalt des Menschen zwischen Schein und Sein durch die ihm von der Gesellschaft aufgezwungene Rolle und der daraus resultierende Selbstbetrug des Menschen bis hin zu Persönlichkeitsspaltung und zum Wahnsinn. Seine antiillusionistischen Stücke revolutionierten Strukturen und Requisiten des Theaters. Sie wurden wegweisend für das Drama und sind bis heute formal wie inhaltlich aktuell geblieben. Mit ihnen wurde Luigi Pirandello zum Wegbereiter unter anderem für Existenzialisten wie Jean Anouilh und Jean-Paul Sartre (Nobelpreis 1964), für das absurde Theaters von Eugène Ionesco und Samuel Beckett (Nobelpreis 1969) sowie für Bertolt Brechts episches Theater.Novellen und RomaneAls Pirandello 1867 als Sohn eines begüterten Schwefelgrubenbesitzers im Süden Siziliens geboren wird, ist das geeinte Italien gerade einmal sechs Jahre alt. Und auch durch sein weiteres Leben begleiten Pirandello die Höhen und Tiefen des sich entwickelnden Nationalstaats: Mit den Spannungen und Desillusionierungen nach der Vereinigungseuphorie wird er selbst direkt konfrontiert, als er sich 1894 in dem später niedergeschlagenen Sozialistenaufstand von Sizilien engagiert. Unter dem Eindruck des wachsenden Einflusses der Faschisten tritt Pirandello 1924 in die Faschistische Partei ein, von deren Ideologie er sich in späteren Jahren aber immer stärker distanziert.Wesentlich erfolgreicher als sein bescheidenes politisches Engagement ist Pirandellos literarische Laufbahn. Nach seinem Literaturstudium wird er 1897 Literaturdozent am Istituto Superiore di Magistero in Rom; diese Lehrtätigkeit muss er nach dem Verlust seines Familienvermögens 1903 wider Willen beibehalten, bis er ab 1922 dann endlich von der Schriftstellerei leben kann.Zu Beginn seiner Tätigkeit als Autor verfasst Luigi Pirandello vor allem Novellen und bleibt diesem Genre zeitlebens treu; bis zu seinem Tod verfasst er rund 240 dieser Erzählungen, die er in der Sammlung »Novellen für ein Jahr« (1922-37) zusammenfasst. Viele dieser Novellen zeichnen sich durch ein dramatisches Gefüge und einen szenisch-dialogischen Aufbau aus und dienen ihm später als Vorlagen für seine Theaterstücke.Die Reihe seiner Romane, deren literarische Bedeutung erst in jüngster Zeit Beachtung findet, eröffnet Pirandello 1901 mit »Die Ausgestoßene«. Hier thematisiert er bereits eines seiner Leitmotive — den Menschen, der im Zwiespalt zwischen sozialem Schein und Sein zu einem Dasein inmitten grotesk anmutender Ungereimtheiten verurteilt ist — und stellt gesellschaftliche Normen und Institutionen wie die Ehe infrage. Diese zentralen Themen werden in Pirandellos berühmtestem Roman »Mattia Pascal« (1904) noch um das Motiv des Identitätsverlusts ergänzt. Der Titelheld Mattia Pascal flüchtet sich, begünstigt durch einen Geldgewinn im Casino und seinen angeblichen Selbstmord, aus unerträglichen Familienverhältnissen in ein neues Leben unter anderem Namen. Doch nachdem er anfänglich die neue Freiheit genossen hat, muss er bald erkennen, dass er durch seine Scheinexistenz vom Leben ausgeschlossen ist.In dem Roman »Einer, keiner, Hunderttausend« (1926) steigert sich dieser Identitätsverlust des Protagonisten dann bis zur Persönlichkeitsspaltung und vollkommenen Entfremdung von sich selbst und der Welt.Neue Impulse für das TheaterAb 1916 beginnt Pirandellos zweite Schaffensphase, in der er die relative Abgeschiedenheit des Buchautors durchbricht und als Bühnenautor, Regisseur, Schauspieler und Theaterdirektor in direkten Kontakt zu seinem Publikum tritt.Bereits seine ersten Stücke, etwa »Liolá« (1916), »Die Narrenkappe« (1917) oder »Das Rollenspiel« (1918), sind große Aufführungserfolge in Italien. Der Konflikt der Helden zwischen der Rolle, die sie in Gesellschaft und Familie spielen müssen, und dem, was sie wirklich sind, ist das Grundmuster dieser Dramen, von denen einige noch in sizilianischem Dialekt verfasst sind.Auch der Held in Pirandellos »Heinrich IV.« (1922) spielt eine Rolle: die eines Wahnsinnigen. Zwar lebt der adlige Protagonist durch eine Kopfverletzung viele Jahren in dem Wahn, der deutsche Kaiser Heinrich IV. zu sein, doch auch als er längst genesen ist, hält er die Fassade aufrecht, um seinerseits seinen Mitmenschen Rollen zuteilen zu können.1921 gelingt Luigi Pirandello der internationale Durchbruch mit »Sechs Personen suchen einen Autor«. Pirandello hat das Stück zusammen mit »Jeder nach seiner Art« (1924) und »Heute Abend wird aus dem Stegreif gespielt« (1930) zu einer »Trilogie des Theaters im Theater« zusammengefasst und leitet damit die Phase seines »Metatheaters« ein, in dem das Spiel im Spiel, das Theaterspielen über das Theaterspielen, zum Hauptmotiv erhoben wird. Die Eigenart der drei Stücke beruht, wie Pirandello selbst erläutert, »auf der Art der Beschaffenheit der Konflikte zwischen den einzelnen Theaterelementen« — im Fall von »Sechs Personen suchen einen Autor« sind das Personen, Schauspieler und Regisseur.Bei den Proben zu einem anderen Pirandello-Stück tauchen plötzlich sechs Personen auf der Bühne auf: der Vater, die Mutter, deren gemeinsamer Sohn und drei Kinder, die die Mutter von ihrem Liebhaber bekommen hat, nachdem ihr Mann sie aus dem Haus getrieben hat. Die sechs sind keine normalen Personen, sondern unfertige, von ihrem Autor aufgegebene Bühnenfiguren, die ihr schmerzliches Schicksal nun auf der Bühne darstellen, zu Ende spielen und damit aufarbeiten wollen. So tragen sie ihre Geschichte vor und versuchen, Regisseur und Schauspieler zum Spielen dieser Geschichte zu bewegen. Doch der von vielen Diskussionen, Kritik und Protest unterbrochene Versuch, die Erlebnisse der sechs Personen schauspielerisch darzustellen, scheitert, denn Regisseur und Ensemble fehlt der emotionale Bezug. So werden in »Sechs Personen suchen einen Autor« Leben und Kunst, Fiktion und Realität miteinander verwoben, und gleichzeitig wird das bürgerliche Theater mit seiner vorgefertigten Handlung und starren Theatermaschinerie infrage gestellt. Pirandellos Stück ist nicht fertig oder starr, sondern »alles wird gemacht, alles bewegt sich, alles ist improvisierter Versuch«. Dieser Bruch mit der Theatertradition löst bei der Uraufführung zwar einen handfesten Skandal aus, dennoch wird gerade das Drama, das das traditionelle Theater als untauglich demontiert, ein ungeheurer Erfolg, es wird zu einem der meistgespielten Stücke der 1920er-Jahre.In seinen späten Theaterproduktionen, die wie »Wie Du mich willst« (1930) meist im bürgerlichen Milieu spielen, verfolgt Luigi Pirandello seine bevorzugten Themen weiter, verarbeitet aber in besonderem Maß sein Interesse an Psychologie. Viele dieser Stücke erreichen aufgrund ihrer komplizierten Handlungs- und Personenkonstellation nicht mehr die Qualität der Werke aus seiner »Metatheater-Zeit«.S. Straub
Universal-Lexikon. 2012.